Projekt: Befragungen von Zeitzeug/innen zu ihrer Migrationsgeschichte – Dilzeen Singh im Gespräch mit Jaswant Singh

Der Kernlehrplan Geschichte NRW sieht für die EF (Einführungsphase der Oberstufe / 10. Klasse) den inhaltlichen Schwerpunkt „Migration am Beispiel des Ruhrgebiets im 19. und 20. Jahrhundert“ vor. Da am Helmholtz-Gymnasium die meisten Kinder selbst einen Migrationshintergrund haben, bietet es sich an, dieses Thema auch anhand der eigenen Familiengeschichten zu behandeln. Daher erhielten die Schülerinnen und Schüler meines EF-Geschichtskurses im Frühjahr 2021 die Aufgabe, ein Familienmitglied, das aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert ist, zu seinen Migrationserfahrungen zu interviewen. Es sollten dabei unter anderem die Bedingungen im Herkunftsland und Gründe für die Auswanderung, Erfahrungen auf der Reise und die Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse nach der Ankunft in Deutschland erfragt werden. Abschließend sollten die Schüler/innen die Aussagen der Befragten mit ihrem Hintergrundwissen aus dem Unterricht verknüpfen und sie analysieren. Ich bekam von den meisten Kursteilnehmer/innen die Rückmeldung, dass das Projekt ihnen viel Spaß gemacht hat – nicht zuletzt, weil es ihnen Gelegenheit bot, Details über das Leben ihrer Familienangehörigen zu erfahren, die sie bisher nicht kannten – und so ihre eigene Geschichte besser zu verstehen.

Einige gelungene Ergebnisse sind hier dokumentiert.

David Graumann

Interview 

I: Interviewer/Ich J: Jaswant Singh 

I: Hallo Herr Singh, kann ich Ihnen ein paar Fragen über ihre Migration nach Deutschland stellen?

J: Natürlich!

I: Könnten Sie sich bitte vorstellen?

J: Mein Name ist Jaswant Singh,ich bin 66 Jahre alt und komme ursprünglich aus einem Dorf in Indien namens Sahni. Heute lebe ich in Dortmund mit meiner Familie.

I: Schön. Wie war ihre Kindheit in Indien? Hatten sie irgendwelche finanzielle Schwierigkeiten?

J: Aufgewachsen bin ich mit meinen fünf Geschwistern und meinen Eltern. Mein Vater, der Bauer war, war Alleinverdiener. Trotzdem hatten wir immer genug Geld, um uns zu versorgen, aber es hätte besser sein können. Meine Brüder und ich haben auch gerne meinem Vater geholfen, wenn wir nicht gerade was für die Schule tun mussten. Meine Kindheit war zwar, wie man sieht, anders als eure, dennoch fand ich sie schön.

I: Das klingt sehr schön, wenn wir schon beim Thema Schule sind, wie waren Ihre schulischen Leistungen?

J: Die Schule hat mir sehr viel Spaß gemacht. Dementsprechend hatte ich auch immer gute Noten und habe die 11. Klasse mit Erfolg abgeschlossen.

I: Was haben sie nach der Schule gemacht?

J: Nach der Schule bin ich auf ein Berufskolleg gegangen, wo ich dann eine Lehre als Elektriker angefangen und 1974 erfolgreich abgeschlossen habe.

I: Wenn sie ihre Lehre als Elektriker abgeschlossen haben, warum sind sie ausgewandert?

J: Zunächst hatte ich nicht vor auszuwandern, aber ich habe jahrelang keine Arbeit gefunden, trotz abgeschlossener Lehre. Mein Traum war es auch schon immer, kein Bauer zu werden, um meiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Da die Wirtschaft auch nicht gut in Indien ist, habe ich mich dann letztendlich dazu entschieden, es in einem anderen Land zu  probieren.

I: Was genau haben sie sich von der Auswanderung erhofft?

J: Wie gesagt wollte ich meiner Familie ein besseres Leben ermöglichen. Ich habe gehofft, dass ich einen guten Job finde, um meine Familie finanziell zu unterstützen. Natürlich wollte ich auch ein schöneres Leben für mich, in einem Land ohne wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme.

I: Ich verstehe. Warum haben Sie sich für Deutschland entschieden?

J: Nach Deutschland zu kommen, war eigentlich nicht mein erster Plan. Bevor ich nach Deutschland gekommen bin, war ich in zahlreichen anderen Ländern, wie Nepal, Iran, Irak, Thailand etc. Ich habe zwar Arbeit gefunden und konnte meiner Familie immer Geld schicken, jedoch habe ich mich nirgendwo wirklich wohl gefühlt. Da mein älterer Bruder und ein paar Freunde von mir nach Deutschland gegangen sind und ich von meiner Schulzeit wusste, dass es einem in Deutschland gut gehen kann, wollte ich es dort auch einmal probieren, weswegen ich dann im September 1978 letztendlich hier gelandet bin. 

I: Interessant. Und mit wem sind Sie damals nach Deutschland gekommen?

J: Mit ein paar Bekannten aus Indien, mit den ich auch schon in Iran zusammengearbeitet habe. 

I: Okay und was mussten Sie vor ihrer Reise erledigen?

J: Ich musste einen Asylantrag stellen und einen Gesundheitstest machen, den ich bestanden habe. 

I: Und wie genau verlief ihre Reise?

J: Ich bin direkt von Thailand aus nach Ost-Berlin geflogen. Als ich gelandet bin, bin ich von West-Berlin aus mit dem Zug nach Lünen gefahren, wo ich für ein paar Tage bei einem Kollegen von mir gewohnt habe.

I: Wie haben Sie sich auf dem Weg gefühlt?

J: Es war eine Mischung aus Freude und Angst. Natürlich hatte ich Angst, dass es nicht klappt und ich zurück nach Indien muss, aber dennoch habe ich mich gefreut, dieses Abenteuer einzugehen.

I: Und was geschah nachdem Sie in Lünen angekommen sind?

J: Damals gab es die Regel, dass man nicht länger als 3 Tage in einer Stadt bleiben durfte, ohne sich beim Einwohnermeldeamt anzumelden, deswegen ging es für mich nach 2 Tagen nach Gladbeck, wo ich auch für zwei Tage bei meinem großen Bruder gewohnt habe. Danach ging ich nach Paderborn, wo ich mich angemeldet und dort gearbeitet habe. Die Wohnung habe ich dank einem Freund gefunden.

I: Sie sagten, sie haben sich beim Einwohnermeldeamt angemeldet, hatten sie denn eine Aufenthaltserlaubnis?

J: Tatsächlich habe ich schnell eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis bekommen, sodass es für mich kein Problem war, irgendwo zu arbeiten und zu wohnen.

I: Okay und wo haben sie gearbeitet?

J: Nach einer kurzen Suche, wurde ich als Aushilfe bei der englischen Armee angenommen, wo ich dann ab den 10.1.1979 arbeiten konnte.

I: Wie war es in Deutschland zu arbeiten? Hatten sie Probleme mit Rassismus?

J: Tatsächlich zu der Zeit noch nicht. Bei mir auf der Arbeit waren schon sehr viele Ausländer, sodass es nichts Neues war, dass ein Ausländer dazu kam. Meine Arbeitskollegen kamen aus den verschiedensten Ländern, wie Portugal, England, Polen, Indien etc. Wir haben uns alle gut verstanden und auch die Arbeitgeber sind respektvoll mit uns umgegangen.

I: Und wie war es mit Ihren Nachbarn?

J: Ich hatte deutsche Studenten als Nachbarn. Sie waren sehr freundlich und haben mich immer begrüßt, als sie mich gesehen haben. Ein wenig Deutsch habe ich dank ihnen gelernt.  Mein Eindruck von Deutschen war sehr gut, denn sie waren immer freundlich und offen.

I: Hatten sie kein Heimweh?

J: Am Anfang hatte ich natürlich Heimweh, schließlich war ich noch nie so weit weg von meiner Familie, aber meine Arbeitskollegen bzw. Freunde haben mir dabei geholfen mich in Deutschland zuhause zu fühlen. Die Atmosphäre in Deutschland war friedlich und schön.

I: Wie lange haben Sie für die englische Armee gearbeitet?

J: Bis August 1981. Da musste ich leider Deutschland verlassen, weil ich kein Asyl bekommen habe. Ich habe mein Glück in anderen Ländern wie Finnland, Schweden, Dänemark etc. versucht. Dort hat es aber leider auch nicht geklappt. 

I: Waren die Einwohner in diesen Ländern genau so freundlich und offen wie die Deutschen?

J: Tatsächlich waren auch die Menschen in den anderen europäischen Ländern freundlich und offen für neue Gesichter. Es war schon immer mein Traum gewesen, in Finnland zu leben, leider hat es dort nicht funktioniert, weswegen ich Ende 1981 wieder nach Deutschland gekommen bin und einen Asylantrag gestellt habe. Ähnlich wie beim letzten Mal habe ich die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis bekommen, wobei die Arbeitserlaubnis ein Jahr später kam.

I: Und wo haben sie dann gelebt und gearbeitet?

J: Gelebt habe ich in Lünen bei einem Freund von mir. Sobald ich die Arbeitserlaubnis bekommen habe, bin ich durch ganz Deutschland gereist und habe verschiedene Jobs ausgeübt, bis ich wieder bei der englischen Armee angenommen wurde. Mit dieser bin ich wieder durch ganz Deutschland gereist.

I: Wurde ihr Asylantrag angenommen?

J: Tatsächlich hab ich 1983 oder 1984 mein Asyl bekommen. Irgendwann habe ich dann den deutschen Pass beantragt, den ich 1991 bekommen habe.

I: Was mussten Sie tun, um den deutschen Pass zu bekommen?

J: Zunächst musste ich ihn beantragen. Wichtig war hierbei, dass ich in Deutschland arbeite und das habe ich. Ich musste einen Einbürgerungstest machen, der darin bestand, einen Lebenslauf zu schreiben, die Zeitung vorzulesen und mein Allgemeinwissen unter Beweis zu stellen. Dies habe ich geschafft. 

I: Wie haben Sie die deutsche Sprache gelernt, sodass sie den Test bestehen konnten? 

J: Durch meine lange Reise durch Deutschland habe ich angefangen, mir selbst Deutsch beizubringen, indem ich viel lese und den Deutschen beim Sprechen zuhöre und sogar mit ihnen kommuniziere. Die Deutschen waren auch sehr hilfsbereit. 

I: Das hört sich nach einer spannenden Reise an. Aber bis jetzt haben Sie nur über gute Ereignisse mit den Deutschen gesprochen. Hatten sie keine Erfahrung mit Rassismus?

J: Hauptsächlich waren die Deutschen sehr freundlich. Die Rassismus-Erfahrung habe ich erst gemacht, als ich mich selbstständig gemacht habe. Ich habe nach meiner Zeit bei der englischen Armee einen Imbiss eröffnet. 1993 kamen vorbestrafte Nazis in meinen Laden und haben mich bedroht. Sie wollten meinen Imbiss zerstören, wenn ich ihnen nicht 5000 Mark gebe. Ich bin zur Polizei gegangen, die mir auf der Stelle geholfen haben und die Täter festgenommen hat. Neben dieser rassistischen Tat gab es noch wenige andere, die fand ich aber nicht so schlimm, denn ich hatte deutsche Freunde an meiner Seite, die mich unterstützt haben. 

I: Interessant. Sie haben bis jetzt nur von Ihnen selbst gesprochen. Haben Sie irgendwann Ihre Familie zu sich geholt?

J: Tatsächlich habe ich relativ spät geheiratet. Meine Frau kam ebenfalls aus Indien und wir haben auch dort geheiratet. 1996 habe ich sie dann zu mir nach Deutschland geholt, jedoch hat sie keinen deutschen Pass. Meine erste Tochter habe ich dann 2002 bekommen.

I: Sehr schön. Könnten Sie sich vorstellen, wieder zurück nach Indien zu ziehen?

J: Definitiv nicht! Ich bin glücklich, hier in Deutschland zu wohnen und kann mir nicht vorstellen, wieder in Indien zu leben. Natürlich fliegen wir hin und wieder in den Urlaub machen nach Indien, aber mehr als Urlaub wird das nicht werden.

I: Okay. Eine letzte Frage hätte ich da noch, Herr Singh. Vermissen Sie nicht die Traditionen Indiens?

J: Natürlich vermisse ich einige Traditionen. Jedoch gibt es genug Inder in Deutschland, mit den ich diese ausüben kann und mir dabei helfen, die Traditionen nicht zu vergessen.

I: Ich verstehe. Dankeschön für ihre Mitarbeit. Es war sehr interessant, ihre Geschichte zu hören!

J: Immer wieder gerne! 🙂

Auswertung des Interviews 

Wie man sieht, ist Jaswant Singh während der Konsolidierungsphase nach Deutschland gereist. In der Konsolidierungsphase beschloss die Regierung einen Anwerbestopp, da kein Arbeitskräftemangel mehr herrschte. Die ersten Gastarbeiter lebten sich allmählich in Deutschland ein und versuchten sich zu integrieren. Trotz des Anwerbestopps, gab es trotzdem noch eine hohe Anzahl von Ausländern, da diese ihre Familie nach Deutschland geholt haben, denn sie planten einen längeren oder dauerhaften Aufenthalt in Deutschland. Jaswant Singh kam zwar nicht als Gastarbeiter nach Deutschland, aber auch in seiner Geschichte lassen sich Merkmale der Konsolidierungsphase erkennen. Nicht nur das Jahr seiner Einreise (1978) zeigt uns dies, sondern auch sein Umfeld. Auf seiner Arbeit waren bereits unzählige Ausländer, wodurch es niemanden gestört hat, dass noch einer dazu kam.  Auch seine deutschen Nachbarn hatten kein Problem mit ihm, da sie wahrscheinlich schon an die Ausländer gewöhnt waren. Sie haben ihn akzeptiert und er hat sich integriert. Dass er sich integriert hat, merkt man daran, dass er die deutsche Sprache vollkommen beherrscht und Deutschland als sein Zuhause sieht. Außerdem hat er deutsche Freunde gefunden, die er als sehr freundlich und respektvoll ansieht. Dennoch hat er seine Heimat nicht vergessen, denn er fliegt regelmäßig nach Indien, um dort Urlaub zu machen und hat auch hier in Deutschland indische Freunde gefunden, mit denen er auf seine Sprache kommuniziert und seine Traditionen ausübt. Anders als bei der im Unterricht besprochenen Migration von Ali Basar, hatte Jaswant Singh nicht direkt eine Wohnung und Arbeit in Deutschland. Er musste sich die Wohnung und Arbeit selbst suchen, was mir persönlich zeigt, dass der Start in Deutschland für Jaswant Singh schwieriger war. Ali Basar erzählte von Rassismus auf seiner Arbeit, dies war bei meinem Vater, Jaswant Singh anders, denn bei ihm auf der Arbeit gab es keine rassistischen Vorfälle, da sie schon daran gewohnt waren, dass Menschen aus anderen Ländern mit ihnen arbeiten. Der Rassismus kam erst später. Gemeinsam haben sie aber, dass sich beide integriert haben, ohne ihre Herkunft zu vergessen. Ali Basar hatte zwar ein paar Probleme mit anderen Türken, da sie ihn zu deutsch fanden, diese Probleme hatte Jaswant Singh allerdings nicht. Zusammenfassend kann man sagen, dass Jaswant Singh es leichter hatte als Ali Basar sich zu integrieren, da er, anders als Ali Basar, nicht zu den ersten Ausländern bzw. Gastarbeitern gehörte.

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